Donnerstag, 2. Juli 2009

Neue Schöpfung in Christus

Papst Benedikt hat am Sonntag, 28. 6. 09 in St. Paul vor den Mauern eine fundamentale Ansprache über den heiligen Paulus gehalten. Es geht um die Erneuerung des Menschen durch die Begegnung mit Christus - sehr aktuell, wie ich finde.

Meine Herren Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im Bischofs- und im Priesteramt,
sehr geehrte Mitglieder der Delegation des Ökumenischen Patriarchats,
liebe Brüder und Schwestern!

Ich richte meinen herzlichen Gruß an jeden von Euch. Besonders begrüße ich den Kardinalerzpriester dieser Basilika und seine Mitarbeiter, ich begrüße den Abt und die Gemeinschaft des Benediktinerklosters, ich begrüße auch die Delegation des Ökumenischen Patriarchats in Konstantinopel. Das Jahr zum Gedenken an die Geburt des heiligen Paulus geht heute Abend zu Ende. Wir sind am Grab des Apostels versammelt, dessen Sarkophag, der unter dem päpstlichen Altar aufbewahrt wird, kürzlich einer sorgfältigen wissenschaftlichen Analyse unterzogen worden ist: Im Sarkophag, der in so vielen Jahrhunderten niemals geöffnet worden ist, wurde eine kleine Perforation vorgenommen, um eine besondere Sonde einzuführen, mittels derer Spuren eines kostbaren, mit Purpur gefärbten Leinengewebes, das mit feinstem Gold besetzt ist, sowie eines blauen Gewebes mit Leinenfasern entnommen wurden. Es ist auch das Vorhandensein von roten Weihrauchkörnern sowie von protein- und kalkhaltigen Substanzen festgestellt worden. Des weiteren hat sich herausgestellt, dass kleinste Knochenfragmente, die von Fachleuten, die deren Herkunft nicht kannten, nach der C-14-Methode [Radiokohlenstoffdatierung] untersucht wurden, von einer Person stammen, die zwischen dem ersten und dem zweiten Jahrhundert gelebt hat. Das scheint die einstimmige und unbestrittene Tradition zu bestätigen, dass es sich um die sterblichen Überreste des Apostels Paulus handelt.

All das erfüllt unser Herz mit tiefer Bewegung. Viele Menschen sind in diesen Monaten den Wegen des Apostels gefolgt – den äußeren und mehr noch den inneren Wegen, die er während seines Lebens zurückgelegt hat: dem Weg nach Damaskus zur Begegnung mit dem Auferstandenen; den Wegen durch die Mittelmeerländer, die er mit der Fackel des Evangeliums durchquert hat und dabei Widerspruch und Zustimmung begegnet ist, bis hin zum Martyrium, aufgrund dessen er für immer zur Kirche von Rom gehört. An sie hat er auch seinen längsten und wichtigsten Brief gerichtet. Der Paulusjahr geht zu Ende, doch gemeinsam mit Paulus unterwegs zu sein, mit ihm und dank seiner Jesus kennen zu lernen und wie Paulus vom Evangelium erleuchtet und verwandelt zu werden – das wird immer Teil der christlichen Existenz sein. Und stets wird er, wenn man über den Bereich der Gläubigen hinausgeht, der „Lehrer der Völker“ bleiben, der die Botschaft des Auferstandenen allen Menschen bringen will, weil Christus alle erkannt und geliebt hat; er ist für sie alle gestorben und auferstanden. Wir wollen also auch in dieser Stunde auf ihn hören, in der wir feierlich das Fest der beiden Apostel beginnen, die durch ein enges Band miteinander vereint sind.

Es gehört zur Struktur der Briefe des Paulus, dass sie – immer auf den Ort und auf die besondere Situation bezogen – vor allem das Geheimnis Christi erklären, dass sie uns den Glauben lehren. In einem zweiten Teil erfolgt die Anwendung auf unser Leben: was folgt aus diesem Glauben? Wie formt er Tag für Tag unser Leben? Im Brief an die Römer beginnt dieser zweite Teil mit dem zwölften Kapitel, in deren ersten beiden Versen der Apostel sofort den wesentlichen Kern des christlichen Lebens zusammenfasst. Was sagt uns der heilige Paulus in diesem Abschnitt? Vor allem beschreibt er es als etwas Grundsätzliches, dass mit Christus eine neue Weise der Gottesverehrung begonnen hat – ein neuer Kult. Er besteht darin, dass der lebendige Mensch selbst Anbetung, dass er „Opfer“ bis in den eigenen Leib wird. Gott werden keine Dinge mehr angeboten. Unser eigenes Dasein muss Lob Gottes werden.

Doch wie geschieht das? Im zweiten Vers wird uns die Antwort gegeben: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist...“ (12, 2). Die beiden entscheidenden Worte dieses Verses sind „wandeln“ und „erneuern“. Wir müssen neue Menschen werden, verwandelt zu einer neuen Art des Daseins. Die Welt ist immer auf der Suche nach Neuem, denn zu Recht ist sie mit der konkreten Wirklichkeit immer unzufrieden. Paulus sagt uns: Die Welt kann ohne neue Menschen nicht erneuert werden. Nur wenn es neue Menschen gibt, wird es auch eine neue Welt geben, eine erneuerte und bessere Welt. Am Beginn steht die Erneuerung des Menschen. Das gilt für jeden Einzelnen. Nur wenn wir selbst neu werden, wird die Welt neu. Das bedeutet auch, dass es nicht genügt, sich an die gegenwärtige Situation anzupassen. Der Apostel ruft uns zu einem Nonkonformismus auf. In unserem Brief heißt es: sich nicht dem Schema der gegenwärtigen Zeit unterwerfen.

Wir werden bei der Betrachtung des zweiten Textes, über den ich heute Abend mit Euch nachdenken möchte, auf diesen Punkt zurückkommen müssen. Das „Nein“ des Apostels ist klar und auch überzeugend für jeden, der das „Schema“ unserer Welt beobachtet. Doch neu werden – wie kann man das? Sind wir dazu wirklich fähig? Mit dem Wort über das Neuwerden spielt Paulus auf die eigene Bekehrung an: auf seine Begegnung mit dem auferstandenen Christus, der Begegnung, über die es im zweiten Brief an die Korinther heißt: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (5, 17). Diese Begegnung mit Christus war so überwältigend für ihn, dass er darüber sagt: „Ich bin gestorben“ (vgl. Gal 2, 19; vgl. Röm 6). Er ist neu geworden, ein Anderer, weil er nicht mehr für sich selbst und kraft seiner selbst lebt, sondern für Christus und in Ihm. Im Laufe der Jahre hat er jedoch auch gesehen, dass dieser Erneuerungs- und Verwandlungsprozess das ganze Leben lang andauert. Wir werden neu, wenn wir uns vom neuen Menschen Jesus Christus ergreifen und formen lassen. Er ist der neue Mensch schlechthin. In Ihm ist das neue menschliche Leben Wirklichkeit geworden, und wir können wirklich neu werden, wenn wir uns in seine Hände begeben und uns von Ihm formen lassen.

Paulus macht diesen Prozess der „Neuprägung“ noch deutlicher, indem er sagt, dass wir neu werden, wenn wir unser Denken erneuern. Das, was hier mit „Denken“ übersetzt wird, entspricht dem griechischen Begriff „nous“. Dabei handelt es sich um einen vielschichtigen Begriff. Er kann mit „Geist“, „Gefühlen“, „Vernunft“ und eben auch mit „Denken“ übersetzt werden. Unsere Vernunft muss neu werden. Das überrascht uns. Wir hätten vielleicht erwartet, dass dies eher ein paar Einstellungen betreffen würde: das, was wir in unserem Handeln verändern müssen, eine Aufforderung zum Wandel. Doch nein: Die Erneuerung muss bis zum Letzten erfolgen. Unsere Weise, die Welt zu sehen, die Wirklichkeit zu verstehen – all unser Denken muss sich von seinem Fundament ausgehend verändern. Das Denken des alten Menschen, die übliche Denkweise, ist im allgemeinen auf Besitz, Wohlbefinden, Einfluss, Erfolg, Ruhm und so weiter ausgerichtet. Doch so ist seine Reichweite begrenzt. Auf diese Weise bleibt letztlich das eigene „Ich“ der Mittelpunkt der Welt. Wir müssen lernen, auf eine tiefere Weise zu denken. Was das bedeutet, das sagt der heilige Paulus im zweiten Teil des Satzes: Man muss lernen, den Willen Gottes zu verstehen, so dass dieser unseren Willen formt. Damit wir selbst wollen, was Gott will, damit wir erkennen, dass das, was Gott will, schön und gut ist. Es handelt sich also um eine Umkehr in unserer geistlichen Grundorientierung. Gott muss in den Gesichtskreis unseres Denkens eintreten: das, was Er will und die Weise, wie er die Welt und mich ersonnen hat. Wir müssen lernen, am Denken und Wollen Jesu Christi teilzuhaben. Dann werden wir neue Menschen sein, aus denen eine neue Welt hervorgeht.

Denselben Gedanken einer notwendigen Erneuerung unseres Menschseins hat Paulus in zwei Abschnitten des Briefes an die Epheser weiter erläutert, über die wir daher noch kurz nachdenken wollen. Im vierten Kapitel des Briefes sagt uns der Apostel, dass wir mit Christus erwachsen werden, eine menschliche Reife erreichen müssen: „Wir sollen nicht mehr unmündige Kinder sein, ein Spiel der Wellen, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen...“ (4, 14). Paulus möchte, dass die Christen einen reifen Glauben haben, einen „erwachsenen Glauben“. Das Wort „erwachsener Glaube“ ist in den letzten Jahrzehnten zu einer verbreiteten Devise geworden. Häufig wird das im Sinne der Haltung derjenigen verstanden, die der Kirche und ihren Hirten kein Gehör mehr schenken, sondern eigenständig auswählen, was sie glauben wollen und was nicht – ein „selbstgebastelter“ Glaube also. Und man stellt es als „Mut“ dar, sich gegen das Lehramt der Kirche auszusprechen. Tatsächlich bedarf es dafür jedoch keines Muts, denn man kann sich des öffentlichen Beifalls immer sicher sein. Mut braucht man vielmehr, um am Glauben der Kirche festzuhalten, auch wenn dies dem „Schema“ der zeitgenössischen Welt widerspricht. Diesen Nonkonformismus des Glaubens meint Paulus, wenn er von „erwachsenem Glauben“ spricht. Er bezeichnet es hingegen als „unmündig“, sich von den Strömungen der Zeit treiben zu lassen und ihnen zu folgen. So gehört es etwa zum erwachsenen Glauben, sich für die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens vom ersten Moment an einzusetzen und sich damit radikal dem Prinzip der Gewalt zu widersetzen, gerade auch um die wehrlosesten menschlichen Geschöpfe zu schützen.

Es gehört zum erwachsenen Glauben, die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau für das ganze Leben als Ordnung des Schöpfers anzuerkennen, die von Christus neu bestätigt wurde. Der erwachsene Glaube lässt sich nicht von allen möglichen Strömungen hier- und dorthin treiben. Er widersetzt sich den Stürmen der Mode. Er weiß, dass sie nicht das Brausen des Heiligen Geistes sind; er weiß, dass der Geist Gottes sich in der Gemeinschaft mit Jesus Christus zeigt und ausdrückt. Dennoch bleibt Paulus auch hier nicht bei der Verneinung stehen, sondern führt uns zum großen „Ja“. Er beschreibt den reifen, den wirklich erwachsenen Glauben auf positive Weise mit dem Ausdruck: „Wir wollen uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten“ (Eph 4, 15). Das neue Denken, das uns vom Glauben geschenkt wird, richtet sich in erster Linie auf die Wahrheit. Die Macht des Bösen ist die Lüge. Die Macht des Glaubens, die Macht Gottes ist die Wahrheit. Die Wahrheit über die Welt und über uns selbst wird sichtbar, wenn wir auf Gott schauen. Und Gott wird für uns im Antlitz Jesu Christi sichtbar. Wenn wir auf Christus schauen, dann erkennen wir noch ein weiteres: Wahrheit und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden. In Gott sind beide untrennbar eins: Gerade das ist das Wesen Gottes. Darum gehören für die Christen Wahrheit und Liebe zusammen. Die Liebe ist der Beweis der Wahrheit. Immer von neuem werden wir nach diesem Maßstab bewertet werden müssen, dass die Wahrheit Liebe wird und die Liebe uns wahrhaftig macht.

Noch ein weiterer wichtiger Gedanke erscheint in den Versen des heiligen Paulus. Der Apostel sagt uns, dass wir, wenn wir nach der Wahrheit in der Liebe handeln, dazu beitragen, dass das Ganze – das Universum – dadurch wächst, dass es zu Christus strebt. Paulus interessiert sich auf Grund seines Glaubens nicht nur für unsere persönliche Rechtschaffenheit und nicht nur für das Wachsen der Kirche. Er interessiert sich für das Universum: „ta pánta“. Das letzte Ziel des Werks Christi ist das Universum – die Verwandlung des Universums, der ganzen menschlichen Welt, der gesamten Schöpfung. Wer gemeinsam mit Christus der Wahrheit in der Liebe dient, trägt zum wahren Fortschritt der Welt bei. Ja, hier wird ganz deutlich, dass Paulus die Idee vom Fortschritt kennt. Christus – sein Leben, sein Leiden und seine Auferstehung – war der wirkliche große Sprung des Fortschritts für die Menschheit und die Welt. Nun muss jedoch das Universum im Hinblick auf Ihn wachsen. Dort, wo die Gegenwart Christi größer wird, ist der wahre Fortschritt der Welt. Dort wird der Mensch neu, und so wird die Welt neu.

Dasselbe verdeutlicht uns Paulus nochmals aus einem anderen Blickwinkel. Im dritten Kapitel des Briefes an die Epheser spricht er von der Notwendigkeit, „im Innern an Stärke zuzunehmen“ (vgl. 3, 16). Damit nimmt er einen Gedankengang wieder auf, den er vorher in einem Zustand der Sorge im zweiten Brief an die Korinther behandelt hatte: „Wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert“ (4, 16). Der innere Mensch muss stark werden – das ist ein Gebot, das äußerst gut in unsere Zeit passt, in der Menschen so häufig innerlich leer bleiben und sich daher an Versprechen und Rauschmittel klammern müssen, die dann ein noch größeres Empfinden der Leere in ihrem Inneren zur Folge haben. Die innere Leere – die Schwachheit des inneren Menschen – ist eines der größten Probleme unserer Zeit. Die Innerlichkeit muss gestärkt werden – das Wahrnehmungsvermögen des Herzens, die Fähigkeit, die Welt und den Menschen vom Inneren her mit dem Herzen zu sehen und verstehen.

Wir bedürfen einer vom Herzen erleuchteten Vernunft, damit wir lernen, nach der Wahrheit in der Liebe zu handeln. Das geschieht jedoch nicht ohne eine innere Beziehung zu Gott, ohne das Leben des Gebets. Wir brauchen die Begegnung mit Gott, die uns in den Sakramenten geschenkt wird. Und wir können nicht im Gebet zu Gott sprechen, wenn wir nicht zulassen, dass zunächst Er spricht, wenn wir Ihn nicht zunächst in dem Wort hören, das Er uns geschenkt hat. Paulus sagt dazu: „Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3, 17 ff.).

Die Liebe sieht weiter als der einfache Verstand – das will Paulus uns mit diesen Worten sagen. Und weiter sagt er uns, dass wir nur in der Gemeinschaft mit allen Heiligen, also in der großen Gemeinschaft aller Gläubigen – und nicht gegen oder ohne sie – die Weite des Geheimnisses Christi erkennen können. Diese Weite beschreibt er mit Worten, die die Dimensionen des Kosmos zum Ausdruck bringen wollen: Länge, Breite, Höhe und Tiefe. Das Geheimnis Christi ist von einer kosmischen Weite: Er gehört nicht nur einer bestimmten Gruppe. Der gekreuzigte Christus umarmt das ganze Universum in all seinen Dimensionen. Er nimmt die Welt in seine Hände und trägt sie zu Gott in den Himmel. Vom heiligen Irenäus von Lyon, also vom zweiten Jahrhundert an, haben die Kirchenväter in diesem Wort von der Länge, Breite, Höhe und Tiefe der Liebe Christi eine Anspielung auf das Kreuz gesehen. Die Liebe Christi hat am Kreuz die größte Tiefe umarmt, die Nacht des Todes, und auch die größte Höhe, die Erhabenheit Gottes. Und er hat die Breite und die Weite der Menschheit und der Welt in ihrem ganzen Ausmaß in seine Arme genommen. Ewig umarmt Er das Universum – uns alle.

Beten wir zum Herrn, dass er uns helfe, etwas von der Weite seiner Liebe zu erkennen. Beten wir zu Ihm, dass seine Liebe und seine Wahrheit unser Herz berühren mögen. Bitten wir, dass Christus in unseren Herzen wohnen und uns zu neuen Menschen machen möge, die nach der Wahrheit in der Liebe handeln. Amen!

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