Sonntag, 21. Juli 2019

Götterwickerhamm St. Nikomedes


Götterswickerhamm, ein Ortsteil von Voerde, liegt bei Stromkilometer 800, gemessen von der Konstanzer Rheinbrücke, d.h. vom Bodenseeausfluß des Rheines.

Der Ortsname ist eine von manchen Putzigkeiten am Niederrhein; es gäbe z. B. auch Schaephuisen, Schenkenschanz oder Düffelward zu bieten.

"Götterswickerhamm", erstmals 1003 erwähnt als "Goterswick", leitet sich wahrscheinlich von einem Ritter Godert ab, der hier Herr eines Wicks (vgl. nl. wijk) war - wohl eines größeren Hofes - und es mit Wall und Graben umgab. Das Wort Hamm bedeutet eine Flußschleife, die hier in Form eines inzwischen verlandeten Altrheinarmes gegeben ist. Vermutlich ist also die Flurbezeichnung des Gebietes zwischen Rhein und Altrheinarm sozusagen versehentlich zum Namen des eigentlich namensgebenden Ortes geworden, der so übrigens erst seit 1934 amtlich ist.

Der Stromkilometerstein 800:


Hier spricht man noch vom "Lippe-Seiten- (statt Wesel-Datteln-) Kanal" und schreibt, deutsch korrekt: "Rotterdamm":


Der Ort hat touristischen Charakter:


Sogar eine Rheinpromenade gibt es hier...


... und auch so etwas:




Die Kirche von Götterwickerhamm wurde vermutlich im 10. Jahrhundert gegründet und erhielt das Patrozinium des gerade erst heilig gesprochenen römischen Martyrerpriesters Nikomedes. Eine (die einzig weitere mir bekannte) Kirche mit diesem Patrozinium steht in Borghorst.

Die (Grund-) Mauern der heutigen Kirche stammen von 1447. (Der Turm ist von einem um 1200 errichteten Vorgängerbau übernommen worden.) Sie ist nach Zerstörungen 1821-34 wiedererrichtet worden. Man nennt sie stolz eine "Schinkelkirche". Tatsächlich hat der preußische Geheime Oberbaurat Karl Friedrich Schinkel nicht nur pflichtgemäß ein korrigierendes Auge auf die Pläne geworfen, sondern, um den Baufortgang zu beschleunigen, selbst vermutlich mehr als nur einige Détails gezeichnet. Weiteres zur Geschichte hier.

Bei dieser Renovierung sind die z. T. schon eingestürzten Gewölbe entfernt worden. Der Bauschutt wurde dafür verwendet, den Kirchenboden gegen Hochwasser zu erhöhen. 



Über dem Westportal das Wappen der Herren von Götterswick:


Grabplatte des Caspar von Sieberich zu Voerde vom 1639 im Turm:



Das Innere erfreut durch die geostete Ausrichtung und den (einigermaßen) "richtigen" Altar - hier als Kanzelaltar ausgeführt. Es wirkt doch ein bißchen sakral... 

Die "schinkelsche" Renovierung fand nach der vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. verfügten Union der Lutheraner mit den Reformierten in seinem Reich statt. Manche haben mir zurückgemeldet, daß ein solcher Kanzelaltar als reformiert anzusehen sei (siehe auch Kommentare unten). In dieser Gegend, z. B. im nahen Brünen, sind reformierte Kirchen allerdings manchmal "gedreht", wie es fast immer in den Niederlanden der Fall ist: Das "liturgische Zentrum" befindet sich dann an der Südwand, die Plätze für die Gemeinde im Westen, Norden und Osten. Schlußendlich scheint in Götterwickerhamm also die preußische Union den verwischenden Ton angegeben zu haben.

Überhaupt ist es ja schön, daß die Kirche offen ist. Dafür sorgt an den Sonntagen im Sommer der Förderverein Baudenkmal Kirche Götterwickerhamm. Drei Damen taten gerade Dienst, waren sehr freundlich und gaben Erklärungen. Die Kirche von Götterwickerhamm ist die "Mutterkirche" der protestantischen Gemeinde Voerde, die, wie mir eine Dame sagte, über vier "Predigtstätten" verfügt. Der Kirchbesuch an diesem Sonntag lag nach Auskunft der besagten Dame bei gut einem Prozent. Sie berichtete auch, daß das lutherische Erbe seit der (alt-)preußischen Union unter König Friedrich Wilhelm III. von Preußen hier keine Rolle mehr spielt: "Der Pfarrer wendet sich beim Gebet nicht zum Altar."

Blick ins Kirchenschiff nach Osten:


Wie der geneigte Leser sicher schon vermutet, stimmt etwas mit der Orgel nicht. Auf dem Kirchenführer ist die Skizze Schinkels für die Ostpartie wiedergegeben:


Das jetzige Instrument (15 Register, 4 Transmissionen, Membranladen) ist 1933 von der Schwelmer Firma Faust errichtet worden und ersetzt ein Instrument von Ibach aus dem Jahr 1834. 

Der Taufstein von etwa 1200 war zwischenzeitlich durch einen neueren ersetzt worden. Der alte hatte (wie üblich) als Pferdetränke gedient, wurde dann wiederentdeckt und reaktiviert. Es handelt sich um einen Taufstein des Bentheimer Typus - und er ist auch aus Bentheimer Sandstein. Man hat ihn also von weit her kommen lassen. So etwas war um 1200 der letzte Schrei. 

Im nicht allzu weit entfernten Borken steht ein ganz ähnliches Exemplar (hier, Seite 3).


Hier erkennt man gut die spätmittelalterliche Bausubstanz (Mauern) und die klassizistische Neuausstattung:


Zu den "Schinkelkirchen" gehört, wie mir eine der wachenden Damen berichtete, unbedingt die Kleeblattranke:


Auf der Empore stehen noch die originalen "schinkelschen" Bänke mit schmalen, exakt waagerechten Sitzflächen und exakt senkrechten, geradezu "sakral-masochistischen" Rückenlehnen. Da kommt Freude auf...




Im Westen der Empore befindet sich eine (protestantischerseits vermutlich als sakral empfundene) Gedenktafel für die Überlebenden (!) des preußisch (!) angeführten "Landsturms" 1813/14 gegen die Franzosen:
  



Zur Reformationsgeschichte:

Die zur Zeit protestantische Kirche (St. Nikomedes) in Götterswickerhamm (Nebenpatrozinium nach Auskunft eines Ortskundigen: St. Maria Magdalena) spiegelt in mehrfacher Hinsicht die Religionsgeschichte am Niederrhein in den letzten 500 Jahren. Zur Zeit der Reformation gehörte sie zum Herzogtum Kleve. In den angrenzenden nördlichen Provinzen der Spanischen Niederlande tobte der 80-jährige Krieg. Die sich gegen die Spanier erhebenden Niederländer sammelten sich hinter dem militärisch erfolgreichen Wilhelm von Nassau unter der Fahne der Religionsfreiheit, was praktisch Calvinismus bedeutete. Herzog Johann III. von Kleve verordnete für sein Herzogtum religiöse Toleranz, befahl nur, daß die Geistlichen der Konfessionen sich doch bitte nicht gegenseitig die Augen auskratzen sollten, und blieb selbst katholisch.

In den Städten gab es nun Kirchen mehrerer Konfessionen - katholisch, lutherisch, reformiert. In den Dörfern kam es "mangels Masse" zu "eindeutigen" Entscheidungen. 

Götterwickerhamm wurde 1594 lutherisch. Aber so einfach scheint es nicht zu sein. Aus dem Kirchenführer erfährt man:

Im Zuge der Toleranz der Klevischen Herzogs entschieden die adligen Ortsherren über die Konfession in ihrer Herrschaft. Der über Götterwickerhamm herrschende Edelherr Jürgen zu Syberg auf Haus Voerde, der zum Kreis um Martin Luther gehörte, stellte für sein Haus einen lutherischen Prediger ein. In Funktion des Oberkirchmeisters und als Patron der Kirche setzte er 1590 in Götterswickerhamm neben dem katholischen Pfarrer* einen lutherischen Prediger auf die Vikariestelle*, nämlich den mehrfach vertriebenen Konrad Glinzing aus Württemberg. So gab es hier für eine gewissen Zeit zwei Konfessionen und deren Gottesdienste - und man konnte so praktischerweise bei Truppendurchzügen im Konfessionskrieg immer vorweisen, auf der richtigen Seite zu stehen. (Schon zuvor hatte man sicherheitshalber den heiligen Nikomedes aus dem Ortsiegel entfernt, um calvinistischen Furor anzuwehren.)

(* Aus dem folgenden geht hervor, daß der lutherische Prediger Glinzing nicht die Vikarie-, sondern die Pfarrstelle innehatte und der katholische Priester Jodocus Rost Vikar war.)

Der katholische Priester Jodocus (Jobst) Rost war, nach Auskunft des Kirchenführers, wohl nicht gerade vorbildlich in seiner christlichen Lebensführung. Eine Konkubine zu haben, das war damals normal. Aber er hatte sich als Landwirt auch in einige Rechtsstreitigkeiten eingelassen, die seiner Beliebtheit nicht gerade zuträglich waren. Außerdem soll er unredliche Geldgeschäfte gemacht haben. Mag so etwas damals auch für Priester normal gewesen sein, erwies es sich jetzt eben als nachteilig. 

Nun starb der protestantische Prediger (Pfarrer?) Glinzing, und Jodocus Rost wollte dessen Stelle einnehmen, was zu Streitigkeiten im Kirchspiel und mit dem Edelherrn führte. 

Zu dieser Zeit (1609) war der letzte Herzog von Kleve, Johann Wilhelm, kinderlos gestorben, so daß das Herzogtum an seine rechtlichen Erben, den reformierten Kurfürsten von Brandenburg und den katholischen Pfalzgrafen von Neuburg fiel, die das Herzogtum zunächst gemeinsam regierten, was im 80-/30jährigen Krieg natürlich zu Verwirrungen führte.

Jobst Rost wußte sich zunächst zwar zu behaupten, aber da er in seinen Streitigkeiten sogar handgreiflich wurde, sank seine Gunst beim Volk weiter. Er versuchte, "mit List und Intrigen die (...) Situation für sich zu nutzen" (Kirchenführer).

Durch den Widerstand der Gemeinde und durch die Unterstützung des Freiherrn Johann von Heyden - so ist im Kirchenführer zu lesen -, wurde am 1. April 1625 Melchior Kruse als lutherischer Pfarrer eingesetzt, und die Gemeinde trat nach und nach geschlossen zum Luthertum über.

Der Kaplan von St. Johannes Ev. Eppinghoven rettete das Allerheiligste aus der Kirche (so erzählt man es jedenfalls bis heute). Eppinghoven wurde zur Pfarrei erhoben und erhielt (vermutlich zum Dank für diese Rettung) das Pfarrerwahlrecht, das m. W. Anfang des 20. Jh. eingeschränkt (Dreierliste des Bischofs) und Anfang des 21. Jh. durch Fusion ausgelöscht wurde.


Messe am Fest des heiligen Nikomedes

Der Festtag des heiligen Priesters und Martyrers Nikomedes ist sein Todestag, der 15. September. Das Römische Martyrologium berichtet (Übersetzung aus dem "alten" Schott): "Als man ihn zum Opfern zwingen wollte, gab er die Antwort: 'Ich opfere nur dem allmächtigen Gott, dem himmlischen König.' Daraufhin schlug man ihn so lange mit Bleiruten, bis der niedersank."

Die Orationen zum St.-Nikomedes-Fest sind bis zur Liturgiereform von 1965 Bestand des Meßbuchs geblieben. Erst 1969 wurden sie daraus getilgt. Für das Patronatsfest in Götterwickerhamm ;-) seien sie hier dokumentiert (Übersetzung aus dem deutschen Missale Romanum von 1965). (Die übrigen Texte sind die des Commune für einen Martyrer "In virtúte".)

COLLECTA - TAGESGEBET
Adésto, Dómine, pópulo tuo: ut beáti Nicomédis Mártyris tui mérita præclára suscípiens, ad impetrándam misericórdiam tuam semper ejus patrocíniis adjuvétur. Per Dóminum nostrum Jesum Christum, Fílium tuum, qui tecum vivit et regnat in unitáte Spiritus Sancti, Deus per ómnia sǽcula sæculórum.
Deinem Volke sei nahe, o Herr: rechne ihm an das herrliche Zeugnis deines Märtyrers Nicomedes, lasse es immerdar seine schützende Hilfe erfahren und deine Barmherzigkeit: Durch unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.

SECRETA - GABENBGEBET
Súscipe, Dómine, múnera propítius obláta: quæ majestáti tuæ beáti Nicomédis Mártyris comméndet orátio. Per Dóminum nostrum Jesum Christum, Fílium tuum, qui tecum vivit et regnat in unitáte Spiritus Sancti, Deus per ómnia sǽcula sæculórum.
Wir bitten dich, Herr, nimm gnädig an die dargebrachten Gaben: Das Gebet des heiligen Märtyrers Nicomedes empfehle sie deiner Majestät: Durch unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.

POSTCOMMUNIO - SCHLUSSGEBET
Puríficent nos, Dómine, sacraménta, quæ súmpsimus: et, intercedénte beáto Nicoméde Mártyre tuo,
a cunctis effíciant vítiis absolútos. Per Dóminum nostrum Jesum Christum, Fílium tuum, qui tecum vivit et regnat in unitáte Spiritus Sancti, Deus per ómnia sǽcula sæculórum.
Vernimm, o Herr, das Gebet deines heiligen Märtyrers Nicomedes: die heilige Speise, die wir empfangen haben, läutere uns und mache uns frei von allem Bösen: Durch unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.


Übersicht der auf diesem Blog dargestellten Orte

3 Kommentare:

Stanislaus hat gesagt…

Den Altaraufbau würde ich eher dem reformierten Erbe zurechnen. Im Bergischen spricht man hier vom Prinzipalaufbau, einem Kanzelaltar mit der Anordnung Altar, Kanzel und Orgel, der in nahezu allen bergischen Kirchen des 18. Jahrhunderts zu finden ist.

ad tiliam hat gesagt…

Ich habe eine solche Anordnung z. B. auch in St. Laurentius Müden in der "erzlutherischen" Lüneburger Heide gesehen (siehe hier: http://adtiliam.blogspot.com/2009/05/celle-und-die-heide.html) - allerdings ohne die Orgel.
Da die Renovierung in Götterwickerhamm nach der von König Friedrich Wilhelm III. verfügten preußischen Union erfolgt ist, wäre es aber in der Tat eine Untersuchung wert, wie weit sich Schinkel in seinen Plänen an dieser Reform orientiert hat.

ad tiliam hat gesagt…

Ein Freund hat sich mit dem Thema "Kanzelaltar" beschäftigt und mir folgendes geschrieben:

"Die erste neu erbaute evangelische Kirche ist wohl die Schloßkapelle
in Torgau anzusehen. Hier haben wir zwar auch die Orgel auf einer Empore
oberhalb des Altares, die Kanzel ist jedoch seitlich (wenn wir von einer Ostung
ausgehen) auf der "Südseite" angebracht.
Die erste Fassung eines sog. Kanzelaltares ist nach Hartmanns Kunstlexikon die
Kapelle auf Schloß Wilhelmsburg in Schmalkalden, die von Wilhelm IV. von
Hessen-Kassel in Auftrag gegeben wurde und (Achtung!) von dem Niederländer
Willem Vernukken ausgeführt wurde.
Wilhelm IV. hat (vergeblich) "auf einen Schulterschluß" (nach Tante Wiki) von
Lutheranern und Calvinisten gehofft und darauf hingearbeitet. Wenn wir nun
diesen Kanzelaltar als gebauten Ausdruck dieses Wunsches interpretierten, wäre
eine Wiederaufnahme dieses gebauten Versöhnungsgedankens durch Schinkel
im Sinne der Unionskirche unter Preussens durchaus denkbar.
Jedoch gibt es gerade in Mitteldeutschland in den Stammlandes des Luthertums
dermaßen viele sog. "Prinzipalstücke" in Barockkirchen, (z. B. Carlsfeld, Frauenkirche Dd)
die kaum von preussischer Union angekränkelt sein dürften, daß man eine genaue
konfessionelle Zuordnung wohl kaum machen kann.
Die enge Verbindung von Wort (Verkündigung durch Predigt und durch hochgeschätzte
Kirchenmusik) und Sakrament (Abendmahl und man vergesse auch nicht die aus der
Taufkapelle häufig in den Altarraum gerückten Taufsteine) finden hier als protestant.
Grundprinzip einen sichtbaren Ausdruck, fernab aller liturgischer und baulicher
Tradition.

Bekenntnisunterschiede ...
Eher sagen da Material und Form des Altares etwas:
Klassische Sarkophagform: lutherisch
Holztisch: reformiert
einem Tische ähnlich (Stein): "Hybridlösung" (siehe Schmalkalden) man weisset selbsnichsogenau

Kanzelaltar wat isset denn nu?
Sagen wir mal so: Es ist halt praktisch!
Alles vorne, gut zu sehen, alle können gerade in
der Bank sitzen bleiben, irgendwie sehr ordentlich ... protestantisch halt

Und ob sich der Pfarrer beim Gebet der Gemeinde zuwendet ...
Hier scheint man wohl eher ökumenisch von Unsitten angekränkelt zu sein."