Ein Freund hat mir geschrieben, daß er aus der katholischen Kirche ausgetreten ist und nun in einer Pfingstkirche geistliche Heimat gefunden hat, weil dort das Evangelium ernstgenommen und gelebt werde.
Meine Antwort:
Ich kann gut nachvollziehen, daß Du in Deiner Suche nach geistlicher Wahrheit und Aufrichtigkeit bei einer Pfingstkirche eine neue Heimat gefunden hast, und habe allen Respekt vor Deiner Entscheidung. Die Grenzen laufen heutzutage ja weniger zwischen den Konfessionen sondern eher mitten durch sie hindurch. Es geht, wie Du schreibst, um die persönliche Entscheidung zu Christus und die lebendige Beziehung zu Ihm. Du weißt ja, daß auch ich mit dem „katholischen Laden“ ringe, damit aber eben um die Kirche, von der ich nicht lassen kann und will.
Ich schreibe Dir im Folgenden einige Gedanken, nicht um Dich zu bekehren, vielleicht eher, um mich dessen zu vergewissern, was ich liebgewonnen, für wahr erkannt habe und nicht verlieren will. Das ist in aller geistlich-menschlichen Sympathie und Ehrfurcht vor Deinem Weg gemeint. Denn der Geist weht, wo er will.
Für mich ist das inkarnatorische Wesen der Kirche entscheidend. Sie ist eine Frucht der Fleischwerdung Gottes und aus dem offenen Herzen Jesu am Kreuz geboren. Ihre amtliche Gestalt ist von Christus begründet, z. B. in der Auswahl und Bevollmächtigung der Apostel (Bischöfe), in der Übertragung einer besonderen Vollmacht des Einheitsdienstes an Petrus (Papst), in der Zusage Christi an die Apostel (nicht alle Jünger!): „Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.“ u.v.a.m.
Die fromme Konzentration auf die Bibel der (im weitesten Sinne) protestantischen Christen beeindruckt mich sehr. Aber ich kann bei aller Hochachtung nicht ausblenden, daß die Bibel ein Buch der Kirche ist: Bischöfliche Synoden haben den Kanon der Bibel festgelegt und damit entschieden, welche der vielen jüdischen und christlichen Bücher zur „Heiligen Schrift“ gehören und welche nicht. Dies geschah, wenn wir an das Wort Christi glauben, im Heiligen Geist, den der Herr in solchen wichtigen Fragen eben den Aposteln, ja besonders dem Petrus verheißen hat. Es waren also „katholische Kleriker“, die den Kanon der Bibel festgelegt haben. Dies geschah sicherlich im Hören auf ihre Gemeinden. Aber das Urteil lag bei dem von den Aposteln geerbten Weiheamt und wurde von den Christen als gültig angenommen.
Natürlich sehe ich das Problem, daß die Apostel- (übrigens auch die Petrus-) Nachfolger oft schwach, ja korrupt sind und es z. T. wohl immer waren. Das ist für mich aber eher ein Argument dafür, daß die katholische Kirche die wahre Kirche Christi ist. Denn nach menschlichen Gesichtspunkten müßte sie ob dieses Führungspersonals längst von der Bildfläche verschwunden sein. Daß es sie gibt, ist für mich ein Gottesbeweis.
Damit kommen wir zum Kern. Es geht um die Sakramentalität, die „Kette der Handauflegungen“ (apostolische Sukzession), das Leiblich-Geschichtliche der Kirche, deren Wesen von einem „jüdischen Wanderrabbi“ vor 2000 Jahren ausgeht, von ihm, seiner Heimat, seinem Volk usw. geprägt ist, und die nach Gottes Willen (und nicht etwa aus blindem Zufall) im Römischen Reich Gestalt annahm und sich (wortwörtlich!) auf dessen Wegen, in dessen Strukturen, Rechtsdenken usw. bis hin zur Form der Liturgie und der Paramente entfaltete. (Von den orientalischen Kirchen gilt das ebenso.) Auf diesem Weg hat sich das Kommen Christi in die Welt („Weihnachten“) fortgesetzt. Er hat seine Kirche dabei immer weiter geboren und gestärkt in den Sakramenten, jenen leiblich-sinnlich-verbindlichen Wirkzeichen seiner Gegenwart: „Da schreitet Christus durch die Zeit in seiner Kirche Pilgerkleid.“ (GL 347,4) Genau darin finde ich geistliche Heimat, Nahrung, Frieden, Trost und auch Widerstandskraft, wiewohl ich an der „real-existierenden“ Kirche leide.
Mir ist klar geworden, daß Papst und Bischöfe nur dann ein Recht auf meinen „Gehorsam“ (= geistlich-lebendiges Hören) haben, wenn sie mir das Evangelium verkünden. Keiner hat das Recht, mir als Gotteskind etwas anderes „vorzuschreiben“ als Christus, den Heiland und Erlöser. Das ist für einen Katholiken vielleicht eine neue, revolutionäre Erkenntnis. Aber den „Gehorsam“ (das geistliche Hören) will ich im Blick auf die „inkarnatorische“ Geschichtlichkeit der Kirche nicht aufgeben, nichts von dem „anvertrauten Gut“ über Bord werfen.
Die Kirche trägt geschichtsbedingt einen Rucksack voll mit Erbstücken auf ihrem Rücken, von denen wir heute nicht alle als wertvoll erachten. Diese „Erbstücke“ sind, wie Christus selbst, in einer konkreten historischen Situation „zur Welt gekommen“ und mögen zum Teil heute unverständlich sein. Wegen ihres Wesens kann aber die Kirche und kann auch ich sie nicht als unnötigen Ballast abwerfen. Man kann sie wohlwollend hüten, denn sie haben ja ihren Sinn (gehabt), und die sperrigen Teile - auch das ist kirchliche Tradition - mit einem katholisch-menschlichen Augenzwinkern ehrfurchtsvoll archivieren. Mir scheint es jedenfalls falsch zu sein, sich von dem historischen Erbe zu trennen, das, wie oben dargelegt, zum geistgewirkten Wesen der Kirche gehört. Alles in allem: Ich liebe die Kirche so, wie sie ist - oder trotzdem und gerade deshalb.
Ein ja nur staatlich vollziehbarer Kirchenaustritt stellt nach vorherrschender theologischer und auch meiner Ansicht an sich keinen Bruch mit der Kirche dar. Dieser wäre erst wirklich vollzogen, wenn man ihre historisch (inkarnatorisch) gewachsene Gestalt mit Ämtern und Sakramenten ablehnte und stattdessen „die Bibel zum Papst“ machte. Das wäre für mich ein intellektuell und geistlich nicht verantwortbarer Verzicht und ein Verlust, für den ich keinen erfüllenden Ersatz erkennen kann.
Nebenbei und ganz persönlich: Gottesdienste mit E-Piano und flammenden Bekenntnissen haben mich noch nie überzeugt. Dann doch lieber ein schlichtes und unaufgeregtes Choralamt. ;-)
Ich hoffe, ich habe Dich mit meinen Gedanken nicht betrübt. In aller Freundschaft werfe ich sie „über den Zaun“, damit wir beide geistlich lebendig und am Ball bleiben, und bin auf Deine Antwort gespannt, wenn Du denn Zeit und Lust dazu hast.