Sonntag, 15. August 2021

Kirchnüchel


Die höchste Kirche Schleswig-Holsteins und der (vermutlich) nördlichste Marienwallfahrtsort in Deutschland ist St. Marien Kirchnüchel (110 m über NN). Sie liegt nordwestlich des Bungsbergs, von wo man weit ins Land und bis zur Ostsee blicken kann, da es sich mit 167, 4 m ü.NN um die höchste Erhebung Schleswig-Holsteins handelt:



Der Name „Nüchel“ ist wendischen (=slawischen) Ursprungs, soll sich auf den Personennamen „Noch“ beziehen und „Nochhausen“ bedeuten. Die Kirche im einst „Wendisch Nüchel“ genannten Ort ist seit ihrer Entstehung und bis heute auch die für das benachbarte „Deutsch Nüchel“, das durch Einwanderer aus dem deutschen Sprachraum entstanden ist. Die beiden Nüchels liegen übrigens zwei Landkreisen: Kirchnüchel im Kreis Plön, Nüchel im Kreis Ostholstein.


Das Dorf Wendisch- oder Kirchnüchel wurde zugunsten des Gutes Grünhaus niedergelegt, so daß heute die Kirche ohne Dorf und das verbleibende Dorf ohne Kirche ist. (Zur Geschichte hier und hier)


Gut Grünhaus:



Bereits die heidnischen Wagrier, ein Teilstamm der wendischen Obotriten, haben hier an einem Quellheiligtum eine Göttin verehrt. Dieses wurde nach der Christianisierung zu einem regional bedeutenden Marienwallfahrtsort. 


Zur Marienquelle als Wallfahrtsziel kam später (vermutlich) eine nur 7 cm große Madonnenfigur aus Elfenbein als Gnadenbild. Diese hat in den 1970er Jahren hier ihr „Geschäft wiedereröffnet“ - siehe dazu diesen Betrag von Hinrich Bues und unten. 


Ein - von der Biersorte abgesehen - verheißungsvolles Kneipenschild begrüßt den Pilger:




Zu dieser Gruftkapelle kommen wir später noch:



Auf dem Friedhof… 



… wird an Christian Cay Lorenz Hirschfeld erinnert, den Begründer der Landschaftsgartenbewegung in Deutschland:



Die Kirche von 1230 besteht im unteren alten Teil aus granitenen Feldsteinen, die durch Eiszeitgletscher von Skandinavien bis hier geschoben und rundgemahlen wurden und bis heute beim Pflügen der Felder zutage kommen …



… und - nach einem Gewölbeeinsturz 1666* - im oberen aus Backstein: 



Maueranker im Turm, der nach einem Erdbruch 1709* erneuert werden mußte:



(* Vielleicht sind Gewölbe- und Turmeinsturz auf das selbe Ereignis zurückzuführen. Ich beziehe mich auf verschiedene Quellen und kann die Jahresangaben nicht überprüfen.)


Die Kirche besteht samt Turmhalle aus nur drei Jochen, bildet also in der Proportion des Grundrisses (1:3) den Jerusalemer Tempel ab. In der Turmhalle:



Blick durch das (nur ein Joch umfassende) „Langhaus“ zum Chor und zum ab 1963 wiederhergestellten frühgotischen Gewölbe:



So sieht es zum Gottesdienst aus:



Die 1971 vollendeten Fenster wurden von Max Schegulla in Stil und Technik von Marc Chagall geschaffen und vom damaligen Besitzer des Gutes Grünhaus, Wilhelm Huth, gestiftet. (Falls es sich um diesen Wilhelm Huth (auch hier) handelt, könnte er die Stiftung als Sühne verstanden haben.)


Fenster der Südschiffwand:



Blick zum Altar und Ostfenster (beide 1970er Jahre):



Sehr wahrscheinlich ist diese 7 cm große Madonna aus Elfenbein das ursprüngliche wundertätige Gnadenbild von Kirchnüchel, das nach der Reformation aus der Kirche entfernt worden ist. Jedenfalls hat man sie auf Initiative des damaligen Pastors Ruldolf Fitzner (vgl. hier S. 108) 1969 als solches aus dem Landesmuseum geholt und ihr an Nordseite des Chorbogens einen neuen (?) und würdigen Ort geschaffen - für eine lutherische Kirche ganz außergewöhnlich. Die Kräuter an den Strahlen haben vermutlich Pilger zu Mariä Himmelfahrt angesteckt. Ich habe die Kirche an diesem Fest (ihrem Patronatsfest) besucht und dabei nicht nur das ein oder andere Ehepaar erlebt, das vor dem Gnadenbild eine Kerze anzündete, auch eine Dame, die mich nach der Marienquelle fragte, sondern auch eine Gruppe von Ordensschwestern, die sich zur Festwallfahrt nach Kirchnüchel aufgemacht hatten und in deren Rosenkranzgebet ich einstimmen durfte.




In der Südwand des Chores findet sich die Besonderheit dreier Rundfenster. Sie sind seit 1971 (wieder) marianisch gestaltet und zitieren die Auffindung des zwölfjährigen Christus durch die Gottesmutter im Tempel, die Hochzeit zu Kana und (oben) Maria unter dem Kreuz:



Darunter geht es zur Gruftkapelle derer von Brockdorff, geschaffen 1692 von Thomas Quellinus (Antwerpen, Kopenhagen) für Cai Lorenz von Brockdorff. Die Toten sind nicht nach Osten, sondern nach Norden hin bestattet, auf den Altar ausgerichtet - und auch nicht "begraben":




Wenn man aus der Gruft herauskommt, sieht man das nördliche Chorfenster, das die Befreiung der Toten aus der Unterwelt (Höllenfahrt Christi) darstellt:



Das Taufbecken:



Das einzig Enttäuschende ist der Blick nach Westen:



Die Marienquelle selbst befindet sich nach Auskunft eines Einwohners hinter dem Gasthaus „Marienquelle“ von 1867 auf der Pferdekoppel, ich vermute etwa hier (Bildmitte):



Das Gasthaus ist zur Zeit leider geschlossen. Es wäre zu wünschen, daß es wegen wachsender Pilgerzahlen bald wieder öffnet und die Quelle zugänglich gemacht wird.



Nachtrag vom 12. September 2021, dem Gedenktag Mariä Namen:

Bei Freunden, die in der Nähe wohnen, war ein Ehepaar zu Gast, der Mann bekennender Atheist mit bremisch-reformiertem Hintergrund und einer theologischen Bibliothek. Die Freunde erzählten von Kirchnüchel und auch von der Krankheit ihres Hundes. 

Auf dem Heimweg wurde das Ehepaar wegen eines Staus auf der A1 vom Navi über Kirchnüchel geleitet. Die Frau schlug vor, die Kirche zu besuchen. Widerwillig stimmte der Mann zu und berichtete hinterher den Freunden, er habe grummelnd ein Ave Maria (!) für den Hund gesprochen. Und von dieser Stunde an ging es dem Hund wieder gut. 

Maria hat geholfen - und zwar einem Atheisten und einem ungetauften Tier. So ist sie. :-)


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